Ist Ungleichheit natürlich?

Immer mehr Menschen stellen sich diese Frage. Jeden Tag lesen wir, dass die Ungleichheit der Vermögen laufend zunimmt. Die reichsten 1% der Weltbevölkerung besitzen mehr als die Hälfte des globalen Vermögens, mehr als alle anderen 99% zusammen. Das Vermögen der Milliardäre weltweit ist in den letzten Jahren massiv gestiegen. Das reichste 1% hat 2020 und 2021 rund 63% des neu erworbenen Vermögens angehäuft.

In Österreich können wir eine ähnliche Entwicklung beobachten: Seit Beginn der aktuellen Teuerungskrise ab 2021 konnten die Vermögensten 5% in Österreich ihr Nettovermögen im Durchschnitt um fast 775.000 Euro pro Haushalt erhöhen.

Entsteht diese wundersame Anhäufung vielleich durch ein Naturgesetz?
Wenn das stimmt, dann könnten wir als zivilisierte Menschen hier einfach gegensteuern: durch eine überlegte Besteuerung von Überreichtum.

Wir haben diese Hypothese am Computer mit einem einfachen Simulationsmodell überprüft und stellen es allen Interessierten unter diesem Link gerne zur Verfügung:
https://rnagler.shinyapps.io/wohlstandshinydashboard/

Das Experiment: 1000 Personen starten mit identischem Vermögen und nehmen 1 Jahr lang am Wirtschaftsleben teil: sie erhalten Zinsen für ihre Sparguthaben, kassieren Dividenden für ihre Aktien oder verdienen ihren Lohn für geleistete Arbeit.

Wie von der traditionellen Wirtschaftslehre (Friedrich Hajek und Kollegen) postuliert haben wir erwartet, dass am Ende die Vermögensverteilung eher gleich bleibt. Aber wir mussten erkennen, dass Chancengleichheit nur für Erwerbsarbeit oder Pension gilt; diese werden mathematisch auch als additives Wachstum bezeichnet.

Demgegenüber führt ein exponentieller Vermögensaufbau wie bei Zinsen oder Dividenden automatisch zu Ungleichheit, weil sich bei diesen Einkommensformen der erzielbare Zuwachs aus Höhe des bereits vorhandenen Vermögens errechnet.

Gleiche Chancen gibt es nur unter Lohnempfängern oder Pensionisten. Diese Gruppe kann Vermögen nur langsam mit Mühe aufbauen.

Reichtum aber führt automatisch zu noch mehr Reichtum. Desto größer ein Vermögen ist, desto stärker wird es weiterwachsen – auch ohne Arbeitsleistung, einfach automatisch.

So erklärt sich die überproportionale Vermögenssteigerung bei Milliardären. Gleichzeitig sinkt der allgemeine Wohlstand weiter und alle anderen Menschen und auch ihre Regierungen müssen sparen.

Ohne ausgleichende Maßnahmen wie angemessene Erbschaft- und Vermögensteuern akzeptieren wir die wachsende Ungleichheit tatenlos.
Wie beim Klima wird Untätigkeit auch hier zur Katastrophe führen.

Glauben wir an ein von Gott gewolltes Naturgesetz? Wollen wir uns wirklich ohne Gegenwehr unterwerfen?

Welche Theorie erklärt die wachsende Ungleichheit?

In der aktuellen Oxfam Studie „Inequality Inc“ zur wachsenden sozialen Ungleichheit wird ein sehr anschauliches Beispiel gezeigt:

„Die fünf wohlhabendsten Männer der Welt – dazu zählen etwa der Tesla-Chef Elon Musk und Amazon-Gründer Jeff Bezos – haben ihr Vermögen seit 2020 von 405 Milliarden US-Dollar auf 869 Milliarden US-Dollar mehr als verdoppelt.
Im selben Zeitraum haben die ärmeren 60 Prozent der Welt, mehr als 4,7 Milliarden Menschen, 20 Milliarden US-Dollar verloren.“

Die meisten Modelle der traditionellen Wirtschaftslehre können diese Fakten nicht erklären.
Sie nehmen irrigerweise an, dass sich das Vermögen einer einzelnen Person an den Mittelwert des Gesamtvermögens aller Personen zu einem bestimmten Zeitpunkt annähern würde (sog. ergodische Hypothese) und somit langfristig stabil sei.
Die Fakten der Realität (wie auch in dieser Oxfam Studie) zeigen aber laufend, dass diese Annahme bei einem multiplikativen Prozess wie der Vermögensentwicklung falsch ist. Das Vermögen einer einzelnen Person nähert sich nur dem Erwartungswert über die individuelle Zeitachse und der ist für die meisten leider negativ, wenn es keine ausreichende Umverteilung in der Form von Vermögen- und Erbschaftsteuern gibt.

Das Wesen lebender Systeme und des Kapitalismus ist multiplikativer Natur: Kapital wird dazu eingesetzt, mehr von sich selbst zu erzeugen. Solche Systeme werden besser durch die Theorie der Geometrischen Brownschen Bewegung erklärt.

Das kann man gut in unserem Simulationsmodell nachvollziehen:
Warum werden Reiche immer reicher?
Wir erkennen, dass eine Steigerung des allgemeinen Bruttosozialprodukts keinesfalls dazu führt, dass alle Menschen reicher werden.

Ole Peters, der die mathematischen Grundlagen dafür entwickelt hat, schreibt dazu:
„In der Ökonomie des multiplikativen Vermögens – des Kapitalismus – können wir 3 Alternativen beobachten:“

  • Wenn wir nichts tun, wächst die Ungleichheit ins Unendliche.
  • Wenn wir schnell genug umverteilen, kann sich die Ungleichheit auf einem bestimmten Level stabilisieren.
  • Wenn wir jedoch aktiv destabilisieren, wie wir es offensichtlich in den letzten Jahren getan haben, verschwindet der Mittelstand. Eine arme Person, die brav wirtschaftet, wird dann immer ärmer und kann nie mehr zum Mittelstand aufsteigen. Ebenso wird eine reiche Person, die sich vernünftig verhält, automatisch immer reicher werden und nie mehr in den Mittelstand absteigen können.

Siehe auch:
Wealth: redistribution and interest rates
DerStandard: Reiche werden reicher